Nach Noten

(c) Klaus Marion 1998

erschienen in VorSicht 9/98


Obwohl Zeugnisse bei den meisten nicht gerade den Ruf einer besonders erfreulichen Angelegenheit genießen, haben Sie jedoch einen nicht zu bestreitenden Vorteil, der an dieser Stelle einmal klar herausgestellt werden muß: Es beschreibt klar und undeutbar die eigene Lage. Während Arbeitgeber nach der harten Trennung von Mitarbeitern mit der Formulierung eines angemessenen Zeugnisses ringen, das den Betroffenen nicht direkt in den Selbstmord treibt, um sich dann zu schwammigen Aussagen wie "War als gesellig bekannt" (=säuft im Kollegenkreis wie ein Loch) oder "war besonders bei den weiblichen Kollegen beliebt" (soll heißen: war schon mit jeder aus der Buchhaltung im Bett gewesen), sind Schulzeugnisse von einer geradezu herzerfrischenden Stringenz und Klarheit: "Deutsch, Mathe, Englisch: 5, Versetzung leider ausgeschlossen".

Eine klare und deutliche Sprache, bei der es nichts zu deuteln gibt und die einem deutlich vor Augen führt, daß das permanente Fehlen in einigen doch eigentlich eher unwichtigen Fächern doch zu einem gewissen Wissensdefizit geführt. In der gymnasialen Oberstufe kommt dazu noch die etwas feiner gefächerte Beurteilung nach Punkten, bei der einer "0 Punkte" in Französisch nichts mehr hinzuzufügen bleibt.

Ein Zustand, der natürlich dem seelischen Wohl des Kindes in keiner Weise Rechnung trägt und der deshalb wohlmeindende kultusministeriale Beamte dazu brachte, zumindest in den ersten zwei Jahren die Beurteilung der Schüler differenziert über eine Leistungsbeschreibung statt über Noten vornehmen zu lassen. Nun ist aber selbst einem bei ministerialen Behörden arbeitenden Pädagogen einsichtig, daß der Satz "Georgs Leistungen sind völlig inakzeptabel und absolut ungenügend" ebenfalls nicht zum moralischen Aufbau des Schülers beitragen würde.
Deswegen wurde die Dienstanweisung zur Benotung um die hilfreichen Hinweise ergänzt, keine als Noten zu deutende Adjektive (gut, mangelhaft, etc.) zu vergeben sowie das Gesamtwohl des Kindes im Auge zu behalten.
Mit anderen Worten: Insbesonders negative Urteile sind verpönt. Und jedes halbe Jahr rätseln tausende von Eltern darüber, ob ein "Silke bewegt sich wach im Zahlenraum von 1 bis 100" eher positiv oder negativ zu bewerten ist, von einer Vergleichbarkeit der Leistungen mal ganz abgesehen.
Damit wurde das Ziel erreicht, die lieben Kleinen schon früh auf die Welt der Arbeit und des Berufes vorzubereiten, ist das dechiffrieren eine Zeugnisses eine vergleichbare Geheimwissenschaft wie das Lesen eines Arbeitszeugnisses beim Wechseln des Arbeitgebers.
Um der dabei aufkommenden Verwirrung abzuhelfen, hat sich VORSICHT, das Magazin für schonungslose Lebenshilfe, entschlossen, die wichtigsten Sätze eines Zeugnisse in ihrer Übersetzung offenzulegen:

Klaus pflegt regen Kontakt zu seinen Klassenkameraden.
Schreit permanent durch die Klasse und schwätzt unaufhörlich.

Er zeigt gleichbleibendes Interesse am Unterrichtsgeschehen.
Nämlich überhaupt keines. Und das konstant seit Monaten.

Seine aktive Mitarbeit verdient Lob.
Wenn es einmal dazu kommt. Normalerweise schläft er während des Unterrichts ein und rutscht schlafend unter die Bank.

Er bringt sich mit großem Einsatz im Gespräch ein.
Tritt mit seinen Füßen andere Kinder, die sich auch einmal melden und verprügelt Mitschüler, die statt ihm drangenommen werden.

Er kann seine Meinung wortgewandt vertreten.
"Halts Maul, ich habe recht. Und wenn Du das nicht akzeptierst, dann kriegst Du so eins auf die Schnauze, daß all Deine Gesichtszüge entgleisen und Du Deine Nase von innen betrachten kannst!"

Er liefert durchdachte Beiträge, die das Unterrichtsgeschehen bereichern.
Im Sachunterricht zum Thema "Mein Zahnarzt": "Ich habe Siglinde gerade einen Zahn ausgeschlagen. Wird der jetzt Teilüberkront, oder muß eine da eine Vollprothese angefertigt werden""

Besondere Freude hat er am darstellenden Spiel.
Schneidet permanent Grimassen und kann mit den Fingern allerlei obszöne Gesten vollführen.

Der Schüler kann aus unbekannten Texten selbstständig Informationen gewinnen.
Blättert mit Vorliebe unter der Schulbank im Playboy.

Er bewegt sich eindrucksvoll im Zahlenraum.
Kann nicht 10 plus 10 zusammenzählen und verblüfft durch völlige Verkennung der richtigen Lösung.

Im Sachunterricht erkennt er schnell Zusammenhänge und behält Einzelheiten im Gedächtnis.
Zum Beispiel, daß Erpressung nicht nur im Bahnhofsmilieu von Frankfurt, sondern auch im Klassenzimmer sehr einträglich sein kann - sofern man nicht vergießt, jede Woche die Schutzgelder einzukassieren.

Klaus Marion


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Last updated 22.10.98