Ratgeber

(c) Klaus Marion 1994

erschienen Mini&Co


Ich habe es schwarz auf weiß: Mein Sohn ist nicht normal.

Er ist im zarten Alter von knapp 2 Jahren seiner Entwicklung hinterher. Diese niederschmetternde Erkenntnis beziehe ich aus dem Ratgeber "Alles für das Kind", dem ich ich folgende Sentenz entnehme:

"Im Alter von 20 Monaten sollte ein normales Kind in der Lage sein, nach kurzer Anleitung den linken Arm um 90 Grad anzuwinkeln, diesen hinter den Kopf zu bewegen und von dort mit den Fingerspitzen den rechten Ellenbogen zu berühren."

Ich habe diesen Absatz, der unter dem Kapitel "Schwere Entwicklungsstörungen erkennen" eingeordnet war, meinem Sohn präsentiert. Die Reaktion war äußerst mangelhaft. Unter wütendem Protest verweigerte der Jungrevolutionär jegliche Mitarbeit bei dem Versuch, diesen schweren Mangel zu beheben.

Meine Frau erklärte mich verrückt:

"Das ist doch völliger Blödsinn. Das Kind ist absolut normal, auch wenn es keine Joga-Kunststücke beherrscht!"

Ich muß ihr irgendwie recht geben. Er macht eigentlich einen relativ normalen Eindruck, auf den ersten Blick ein gesundes, aufgewecktes Kind.

Doch auch hier eine bedächtige Warnung vom "Großen Baby-ABC":

"Gerade bei normal erscheinenden Kindern verbergen sich oftmals versteckte Entwicklungsannomalien!"

Die Tücke steckt im Detail. So schreibt das angesehene Fachbuch "Mein erstes Kind" aus der Reihe der Hobbythek-Bücher eindringliche Warnungen in das Stammbuch verantwortungsbewußter Eltern:

"Die einzelnen Stationen vom Robben, Krabbeln bis hin zum Laufen vollziehen sich beim mitteleuropäischen Kleinkind in den folgenden Zeitintervallen"

Das Studium des Zahlenwerks ergab Erschreckendes: das Kind liegt katastrophal außerhalb jeglicher biologischer Zeitplanung. Dafür waren die Zähne viel früher erschienen, als es "Mayers Universallexikon Baby" selbst in Ausnahmefällen für biologisch möglich hält. Gegen die Proteste meiner Frau vereinbarte ich einen Termin beim zuständigen Kinderarzt meines Vertrauens.

Dort schilderte ich die allgemeinen Symptome, ergänzt um terminale Schwierigkeiten beim Lächeln (zu früh), beim Essen (atypische Vorlieben) sowie ein Wachstum, das sich 32 mm unter Norm befand. Ich ließ meinen wohlfundierten Verdacht eines möglichen genetischen Defektes einfließen, sowie die Frage, wie die Medizin auf diese Notlage zu reagieren gedenkt.

"Überhaupt nicht. Ihr Sohn ist gesund und absolut normal. Verschwinden Sie!

Dieses Erlebnis hat mein Vertrauen in den heilenden Berufstand aufs stärkste erschüttert. Ich erwog kurzzeitig eine Beschwerde beim Hartmannbund, entschied mich dann doch für den Kauf weiterer Standardwerke zum Thema 'Kleinkind'.

Leider erwies sich die Diagnose immer schwieriger. So erwartet "Babys erster Ratgeber" eine artikulierte Sprechweise des Kleinkinds bei mäßig intelligenten Eltern bis zur Vollendung des 18. Monats, während die Beherrschung ganzer Sätze bei "Du und Dein Schreihals" aus dem Rotbuchverlag als Zeichen früher kindlicher Anpassung an gesellschaftliche Normenzwänge interpretiert wird und eine Verweigerung bis zum 3. Lebensjahr als die Reaktion eines gesunden, unabhängigen Geistes betrachtet wird. Nach Auskunft des "Mütterlichen Ratgebers" (Kolping-Verlag) ist es als wichtiger Entwicklungsschritt zu betrachten, wenn das größer werdende Wesen ein selbstständiges Anziehen als emotionalen Lustgewinn betrachtet (und nicht wie unser Sohn als praktische Möglichkeit, Kleidungsstücke in den Mülleimer oder den Hundenapf zu werfen).

Nach Ansicht von "Lernen mit dem Kleinkind" sollte bereits in den ersten Monaten ein intensives Buchstaben-Training einsetzen, wobei dessen Fehlen den Weg zum entwicklungsgehemmten Legastheniker rettungslos vorzeichnet.

Während "Babies Gesundheit" ein frühes beherrschen von Ballspielen aller Art als Symptom eines gesunden Kindes betrachtet, verurteilt das "Flensburger Kinderbuch" solcherlei Anschauungen als zutiefst veraltet und hält derartige frühkindliche Fähigkeiten als Zeichen von geistiger und körperlicher Überforderung, die in Bettnässen und Autoagression enden.

Beim "Das große Kleinkinder-Testbuch" hätte mein Sohn beinahe noch die Gruppe der "Im entwicklungsgeschichtlichen Mittelbereich befindlich" erreicht, wäre er nicht beim Aufschichten der Bauklötze (" Anzahl in 6 Sekunden: 1-2, 2-3, 4-6, 7-11") um einen Stein unter dem Limit geblieben.

Lediglich einen Test hatte er mit Glanz bestanden ("Beschaffenheit der Haare, der Zunge, der Nase (Feucht?)"), leider erwies sich dieser jedoch als ein Kapitel aus dem "Ratgeber für Irish-Setter-Freunde", ein peinlicher Fehlkauf.

Die Liste mit Annomalien wird umso länger, je genauer ich in die literarischen Tiefen der Kinderkunde vorstoße.

Ich bin verzweifelt.

Gestern zum Beispiel, gelang es ihm zum ersten Mal, den Fernseher selbsttätig abzuschalten.

2 Wochen zu früh. Ein entwicklungsgestörte Leidensweg ist vorgezeichnet.

 

Klaus Marion


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Last updated 98/05/04