Der Ball ist rund

(c) Klaus Marion 2000

erschienen in VorSicht

 


"Na, das haben wir gerade noch einmal geschafft. Rudi?"
Während in der Mitte des Stadions bereits der Ball rollte, hatten mein Freund Rudi und ich gerade noch rechtzeitig das Schlagerspiel im Deutschen Fußball erreichen und zwei geografisch annehmbare Plätze ergattern können.
Nun sind Fußballstadien eigentlich nicht gerade mein regelmäßiger Aufenthaltsort, aber da Rudi seine Schulden vom letzten Kneipenbesuch mit einer Eintrittskarte für dieses Spiel bezahlen wollte, hatten ich jetzt das Vergnügen, ein Spitzenspiel der Bundesliga verfolgen zu können. Nur Rudi schien sich nicht recht auf das Spiel zu konzentrieren.
"Was kramst Du denn dauernd in Deiner Jacke?"
Mir war schon zuvor aufgefallen, dass Rudi wohl unter seiner aufgeblähten Daunenjacke diverse Dinge verborgen haben musste. Ich tippte erfahrungsgemäß auf kulinarisches Zubehör, doch zu meiner gelinden Überraschung begann er, diverse technisch aussehende Geräte nebst Unmengen von Kabeln hervorzuziehen.
"Nur die Ruhe. Ich will nur kein Ergebnis verpassen und alle wichtigen Informationen zu diesem und den anderen Spielen bekommen".
"Rudi, ich hätte doch mein Mini-Radio mitbringen können!"
Rudi starrte mich strafend an.
"Radio? Wo lebst Du denn? In unserer multimedialen Zeit tut es doch kein Radio mehr, um am Puls der Information zu sein. Das Mindeste ist eine Onlineanbindung an die aktuellen Infodatenströme im Internet!"
"Hier?"
"Das ist ein Mini-Laptop. Größe eines Taschenbuchs, hervorragende Leistung. Damit bin ich multimedial immer auf dem neuesten Stand."
Rudi begann, verschiedene Kabel mit verschiedenen Kästchen zu verbinden.
"Der Palmtop wird über USB-Port mit einem externen Multiplexer und einen Netzadapter verbunden. Der Netzwerk-Splitter wird über einen Hochleistungsakkupack mit Strom versorgt, um gleichzeitig die Spannungsversorgung für das GSM-Modem und das Handy bereitzustellen. Halten Sie mal?"
Er drückte einem überraschten, neben ihm sitzenden Fan einen Kasten in die Hand und begann mit dem Handy den Empfang zu prüfen.
"Mist, hier bekomme ich ein zu schwaches Signal für einen permanenten TCP/IP-Anschluß. Die Internet-Anbindung ist instabil."
Einige hinter uns sitzende Zuschauer schienen diese Versperrung der Sicht nicht länger tolerieren zu wollen und informierten Rudi verbal, an welche biologisch erstaunlichen Stellen er sein Handy stecken möge.
"Jetzt, jetzt habe ich deutliches Signal! Ich starte den WEB-Ticker sowie in interaktiven Chat mit anderen Zuschauern. Wie steht's?"
Eine gute Frage. Offensichtlich immer noch 0:0, und ich fing an, meine Konzentration wieder auf das Spiel zu verlegen, wo unsere Mannschaft einen starken Konter nach vorne warf, der jedoch durch eine hervorragende Parade des Torhüters der Gastmannschaft zunichte gemacht wurde. Ich jubelte. Rudi auch.
"Jetzt hab' ich parallel den Web-Ticker von Sportbild, die News-Infos von NTV sowie eine Real-Video-Verbindung zu 3 Sat mit einer Livekamera-Verbindung und direkten Kommentaren."
"Du siehst das Spiel auf Deinem Laptop?"
"Nein, leider nur Standbild aus dem Plenarsaal in Berlin. Aber ist doch eine tolle Technik, oder?"
Während er grummelnd weitere Geräte aus den Tiefen seiner Jacke zog und dem unwilligen Fan hinter sich einfach den Akkupack auf den Schoß legte, schien das Spiel auf dem Rasen einem Höhepunkt zuzutreiben. Ein Pass in den freien Raum, der Stürmer rannte allein auf den Torhüter zu und versenkte den Ball ins Netz. Tor!
"Toooor!" Das vielstimmige Echo im Tribünenrund antworte auf meine Begeisterung.
"Rudi, es steht 1:0!"
Rudi bewegte entschlossen die inzwischen angeschlossene Maus auf seinen Knien und schüttelte den Kopf.
"Kann ich noch nicht bestätigen. Bei RAN ist noch kein Ergebnisupdate eingetroffen, und Kicker-Online hat noch nichts gemeldet. Ich frage mal im Chat nach."
Grummelnd betätigte er einhändig die Tasten, während die andere Hand das Handy weiterhin schräg in den Himmel hielt, um die Funkverbindung nicht zu verlieren.
"Ich habe hier ein EMail gekriegt. Ulf aus Rottenburg glaubt, ebenfalls gehört zu haben, dass ein Tor gefallen ist. Er hat versprochen, sich sofort zu melden, wenn er genaueres weis."
"Rudi, es steht eins zu Null!"
"Das hätte ich gerne noch verifiziert. Man muss bei solchen Dingen immer vorsichtig sein."
"Wie steht es denn in Gladbach?"
Rudis angestrengte Versuche, die aktuellen Ergebnisse abzurufen, wurden durch einige Vorkommnisse hinter uns erschwert. Nachdem der dicke Fan mit dem Vereinsschal das vor sein Gesicht gehaltene Handy etwa 10 Minuten ausdruckslos angestarrt hatte, schien er jetzt die Möglichkeiten des Gerätes einmal ausgiebig testen zu wollen. Das aufspießen seiner Wurstsemmel auf die Handyantenne hatte Rudi noch würdevoll ignoriert, nachdem aber einige Umstehende im Rahmen von Jugend forscht zu testen gedachten, wie viel Bier ein Brötchen aufsaugen könne, wurde die Lage für Rudi langsam unhaltbar. Insbesondere, weil das Bier durch seinen Ärmel lief und auf den Akkupack tropfte, den der andere Besucher Rudi mitsamt dem Kabel um den Hals geschlungen hatte.
Da der Netzwerk-Switch ebenfalls wieder seinen Weg zu Rudi gefunden hatte, blieb diesem nichts anderes übrig, als mit der Nase die weitere Navigation durchs Internet vorzunehmen.
"Die aktualisieren nicht die Ergebnisse. Ich glaube, im Backbone ist der Proxy temporär nicht geupdated worden..."
In diesem Moment fiel das Gegentor. Stille. Nur unterbrochen von Rudi, der mit einem jubelnden "Jawoll, Tor!!" die endlich erfolgte Aktualisierung seines Onlinedienstes verkündete.
Ca 50.000 blutrünstige, ausgesprochen unlustige Gesichter wandten sich uns zu, und das Ganze hätte sicherlich für Rudi unschön geendet, wäre nicht in diesem Moment die erneute Führung gefallen.
Das zwei zu eins wurde mit einem Wirbel von geworfenen Sitzkissen gefeiert, allgemeines Aufspringen und emotionaler Freudentaumel.
Lediglich Rudi war still, weil er Multimedial keine Bestätigung einholen konnte, da irgend jemand im überbordenden Freudenrausch sein Laptop für ein Sitzkissen gehalten und fortgeschleudert hatte.
Den Rest des Spieles war Rudi relativ still und verfolgte sogar das Geschehen auf dem Rasen.
Am Ende waren wir uns einig, dass es ein gutes Spiel war. Nur Rudi war nicht ganz zufrieden.
"Ich hätte doch ganz gerne das 2 zu 1 im Internet bestätigt gesehen. Nur so zur Sicherheit!"

Klaus.Marion@marion.de www.marion.de


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Last updated 10.01.01