Geht nicht mehr

(c) Klaus Marion 6/2004

erschienen in VorSicht

 


"Mein Fahrrad geht nicht mehr!"

Ich blickte von der nachmittäglichen Urlaubslektüre meines Buches auf. Mein Sohn stand vor mir und machte ein bedauernde Handbewegung.
"Kaputt. Irgendwas mit der Kette. Musst Du reparieren lassen!"
Nun sind Aussagen der Art "Musst Du reparieren lassen" eine Sorte von Sätze, die mich erst einmal in eine gewisse grundsätzliche Abwehrhaltung versetzen.
Da ist es wieder, das Gespenst der Pisa-Studie: Ein modernes, auf den Export von Hochtechnologie spezialisiertes Land, und eine Jugend, die nicht einmal eine einfache Fahrradkette aufs Ritzel heben kann. Deswegen ist unsere Rente nicht mehr sicher.
Ich versuchte es daher mit einem pädagogischen Ansatz:
"Und, hast Du versucht es zu reparieren?"
"Geht nicht."
"Mein Sohn" ich legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter, "seit Generationen sind Fahrradfahrer in unserer Familie im Stande, die einfachsten Reparaturmaßnahmen an ihren Fahrzeugen selber vorzunehmen. In meiner Jugend habe ich mein Fahrrad grundsätzlich selbst wiederher- und instandgesetzt. Das sind einfach grundsätzliche Fähigkeiten, die man sich fürs Leben aneignen muss..."
"Kriegst Du auch nicht hin!"
Ich zählte innerlich ganz langsam bis 5.
"Doch, das bekomme ich hin. Es ist nur ein Frage des Willens und der Konzentration. Zeig mir mal das Gefährt."
Um die Ecke lehnte das silbern glänzende zweirädrige Gefährt und blickte mich traurig an. Tatsächlich, die Kette hing bis zum Boden durch. Ich krempelte die Ärmel hoch.
"So, jetzt schau mal zu. Du nimmst einfach die Kette und legst sie auf das vordere und das hintere Zahnrad auf. Durch den Kettenspanner an der Schaltung wird dann automatisch eine Straffung der Kette erreicht..."
Pädagogisch unglücklich spannte die Kette keineswegs, sondern hing immer noch auf dem Boden. Ich starrte die am Hinterrad hängende Konstruktion mit gleichermaßen vielen Zahnrädern wie Stellschrauben an. Probeweise ruckte ich an dem Gebilde. Es rührte sich nicht.
"Ich hab' Dir gleich gesagt, Du kriegst das auch nicht hin"
"Hör mal, Gangschaltungen gab es auch schon zu meiner Zeit"
"Kombinierte Kettenschaltungen mit Nabenzusatzoption?"
"Äh... ja."
Tatsächlich war die Anzahl der Seilzüge, Verspannungen, Einstellschrauben sowie Begrenzer und Federungen deutlich höher, als ich es zu meiner Zeit in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte ich...
"Ich löse jetzt erst einmal den Umwerfer vom Rahmen, damit ich besser an die Schaltungselemente komme." Mit einem passenden Werkzeug drehte ich unter starker Gewaltanwendung einen festsitzende Imbus heraus. Ein dünner Flüssigkeitsstrahl sprühte mir entgegen.
"War das nicht der Stoßdämpfer der Hintergabel, den Du da geöffnet hast?"
"Völliger Unsinn. Es handelt sich hier um ... eine automatische... Schmierung der... Kette" improvisierte ich tapfer, während ich hoffnungslos versuchte, das Abfallen weiterer Teile im Bereich des Hinterrades zu unterbinden. Um nicht in den Verdacht mangelnder technischer Kompetenz zu geraten, begann ich, fieberhaft an weiteren Verschraubungen zu drehen. Mit einem Schnappen löste sich plötzlich ein an der Schaltung herunterragendes Teil und klappte federgezogen zusammen, wobei die noch auf dem Zahnrad aufliegende Kette einen gesamten Satz Zahnräder von der Nabe zog.
"Schau mal, da drin sind ja ganz kleine Zahnräder gewesen. Warum hasst Du die rausgemacht?"
"Äh, das ist die Nabenschaltung. Sollte man immer gleich noch reinigen...."
"Und diese vielen kleinen Kügelchen auf dem Boden?"
"Nun, man nennt das auch Kugellager. Machen wir am besten auch mal sauber. Geh doch schon mal rein, ich... schaue mir das noch mal kurz an, bevor ich es einfach wieder zusammensetze. Kommt doch sicher was im Fernsehen für Dich?
Endlich allein starrte ich verzweifelt auf das Sammelsurium verschiedenster Teile vor meinen Füßen. Nachdem ich nach einer guten Stunde noch immer nicht weitergekommen war, packte ich heimlich die Reste in mein Auto und raste zum nahegelegenen Fahrradgeschäft.
Der Chef des Shops starrte mit geweiteten Augen auf die von mir ausgepackten Überbleibsel von Fahrrad und Schaltung.
"Sie wissen ja, wie das ist, wenn die Kinder versuchen zu reparieren..."
"Sollten Sie Ihnen dringend verbieten. Sieht man ja sofort, dass da jemand geschraubt hat, der wirklich überhaupt keine Ahnung von der Sache hat!"
"Hm."
"Wäre wahrscheinlich billiger, Sie kaufen ein neues Rad. Da ist ja wirklich alles hinüber!"
Ich gebot dem Mann, sich unverlangter Ratschläge zu Neuinvestitionen zu enthalten.
Die nächsten zwei Tage überbrückte ich meinem Sohn gegenüber mit dem Hinweis, dass ich das Fahrrad verschiedenen Bekannten überlassen habe, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, auch einmal einen Blick auf die imposanten Ergebnisse der Reparatur eines Fahrrads zu werfen.
Endlich konnte ich das wiederhergestellte Fahrzeug gegen die Bezahlung eines Betrages in Höhe des Bruttosozialproduktes eines durchschnittlichen pazifischen Inselstaates wieder auslösen.
Der Händler wies mich noch darauf hin, dass das ursprüngliche Problem nur eines kurzen Druckes auf die Schaltungstransportsicherung bedurft hätte. Ich versprach, meinen Sohn deswegen nachdrücklich zur Rede zu stellen.
Nach dem Abladen des Rades zu Hause holte ich meinen Sohn hinzu:
"Siehst Du, so einfach war das. Wie neu. Wie ich schon sagte. Alles nur eine Frage des Willens und der Konzentration!"

Klaus Marion


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Last updated 08.07.05