Notaufnahme

© Klaus Marion 2005

erschienen in VORSICHT 1/2005

 


Nichts verhilft zu einem so innigen Blick in tragische Situationen wie amerikanische Krankenhausserien aus dem "Emergency Room", der Notaufnahme. Hier treffen der ungezähmte Wille, das unabwendbare Schicksal niederzuringen, auf die harte Herausforderung schwerster Verletzungen. Menschliche Aufopferungsbereitschaft, unbändige Energie, Kampf gegen die Natur - Dinge, die im normalen Berufsleben eher selten sind und als z.B. Sachkostenbuchhalter im Rechnungswesen eines mittelständischen Unternehmens nur untergeordnet eine Rolle spielen. Umso erregender, sollte man selbst einmal mit dieser Welt in Berührung kommen.

Es war schon späten Abend, als mein aufgeweckter Sohn mir berichten musste, dass der Versuch eines übermütigen Sprungs mit seinen Inlinern mit einem veritablen Sturz endete, und die Schmerzen in seinem Arm langsam überhand zu nehmen begännen.
"Vielleicht ist es ein Armbruch?"
"Nun, da müssen wir wohl ins Krankenhaus. In die Notaufnahme!"
Ich bedeute meiner Frau, sie möge uns Proviant und Decken mitgeben.
"Notaufnahmen sind immer überfüllt. Und drankommen tut man natürlich mit leichten Verletzungen wie einem Armbruch erst zuletzt."
"Woher weißt Du das?"
"Ich sehe Fernsehen."
Schließlich seien von den gestressten Ärzten zuerst die wirklich wichtigen Fällen zu bearbeiten: Schussverletzungen, großflächige Verbrennungen, schwerstverletzte Unfallopfer. Opfer von Bandenkriegen.
Sie möge also morgen früh meinen Arbeitgeber entsprechend benachrichtigen, dass mein Kommen sich auf weiteres verschieben werde.
Auf der Fahrt in die Notaufnahme eines hiesigen Krankenhauses bereitete ich meinen Sohn schon mal auf die harte Realität in der Notaufnahme vor.
"Wichtig ist, dass man im Wartebereich aufgrund der Menschenmengen nicht die Nerven verliert. Aber keine Angst, ich regle das schon. Und nicht nervös werden, wegen dem vielen Blut von den Schwerstverletzten!"
Der Empfang des Krankenhauses war verwaist, ein kleines Schild verwies auf die Abteilung für Notfälle.
Wir betraten den Warteraum von der Größe eines durchschnittlichen Büros. Er war überraschender Weise komplett leer. Ein Schild verkündete, dass ein Klingeln unnötig sei, der Raum wäre videoüberwacht.
Wir setzten uns.
"Ich dachte, Notaufnahmen wären grundsätzlich überfüllt?"
"Nun, ich weiß auch nicht. Vielleicht sind die schweren Fälle in einen anderen Bereich verlegt worden. Ob die uns hier überhaupt gesehen haben? Wo ist denn diese Kamera?"
Mit geschultem Blick entdeckte ich die versteckte Überwachungskamera in einem Kästchen an der Wand und begann, mit ausholenden, rudernden Bewegungen auf uns aufmerksam zu machen.
"Damit die sich im Einsatz befindlichen Ärzte uns auch sehen, wenn sie kurz von den Notoperationen aufblicken"
Nach weiteren 5 Minuten öffnete sich eine Tür, und eine Krankenschwester blickte uns misstrauisch an. Wir sollten bitte hereinkommen - und warum ich die ganze Zeit dem Deckenlautsprecher zuwinken würde?
Wir kamen in einen kleinen Raum in der Größe durchschnittlicher Kinderzimmer. Ich blickte mich um.
"Und, äh, wo ist jetzt die Notaufnahme?"
Die Frau starrte mich an. "Das ist die Notaufnahme. Haben Sie das Krankenversicherungskärtchen dabei?"
Die arme Frau musste neu sein. Hier wurde ein eklatanter Bruch des üblichen Verhaltens bei der Einlieferung von Patienten mit unbekannten Verletzungen deutlich. Zuerst die Notfallversorgung des Patienten, dann der nachgeordnete Papierkram. Ich rekapitulierte 8 Jahre Emergency Room und begann mit einer Patientenübergabe.
"Moment: Patient, weiß, 15 Jahre, Verdacht auf multiple Frakturen am linken Unterarm, gleichmäßiger Puls tastbar, Sauerstoffsättigung hoch und stabil, Blutdruck leicht erhöht, kein Schockzustand. Keine neurologischen Ausfälle erkennbar." Ich lächelte der Schwester verbindlich zu. "Sollen wir schon mal die Kleider herunterschneiden?"
Die Frau starrte mich, wenn das überhaupt möglich war, noch durchdringender an, dann griff sie zum Telefon und orderte sichtlich nervös einen Arzt.
Das Eintreffen des Notfallmediziners war ebenfalls eher enttäuschend. Hatte ich einen eilig herentstürzenden Chefarzt erwartet, so entpuppte sich der hereinschlendernde Heilkundige als einen an einer Kaffeetasse drinkenden und wiederholt gähnenden Assistenzarzt.
Er begann mit der Untersuchung meines Sohnes.
"Sollten wir nicht vielleicht etwas zur Kreislaufunterstützung spritzen? 500 mg Latex? Soll ich einen Zugang legen? Defibrilator laden? Auf 250?. Eine Herzkanüle?" Ich blickte mich suchend nach dem Notfallbesteck um.
Der Arzt stierte mich an.
"Jetzt lassen Sie mich mal in Ruhe untersuchen!"
"Ich wollte mich ja nur nützlich machen. Wenn Sie wollen, kann ich bis zum Eintreffen Ihres Notfallteams eine manuelle Beatmung durchführen?"
"Hören Sie, Ihr Sohn hat eine Prellung des Armes, keine Schwerstverletzung. Jetzt röntgen wir erst einmal."
"Sollten Sie nicht, nur so zur Sicherheit, noch eine zusätzliche Sonographie anordnen? Was ist denn mit dem Kernspin? Wäre das Legen eines Zugangs und 2 Liter Kochsalzlösung nicht angebracht?"
"Nein. Angebracht sind 200 mg Valium sowie ein zweimonatiges Fernsehverbot."
"Und das hilft gegen Armverletzungen?"
"Nein, das stellt Sie erst einmal ruhig!"

Kein Wunder, dass das Gesundheitssystem im argen liegt. Werde mir unbedingt noch einmal die erste Staffel Emergency Room anschauen. Zur Auffrischung.


Klaus Marion


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Last updated 11.10.05