Soziales Umfeld

(c) Klaus Marion 3/2003

erschienen in VorSicht

 


"Frau Hügelmann fährt ein neues Auto." Meine Frau mach diese Bemerkung am Frühstückstisch, zwischen einem Brötchen und einem Schluck Kaffee. Ich blickte von der hochinteressanten Analyse des letzten Bundesligaspieltags auf und bekundete durch ein prononciertes "Ah ja!" meine ungeteiltes Interesse.
"Frau Hügelmann! Die Krankenschwester. Sie wohnt in der Straße! Du weißt doch in Wirklichkeit gar nicht, von wem ich spreche!"
Meine Gesichtszüge mussten mich verraten haben.
"In unserer Straße. Du kennst Sie doch. Wohnt gegenüber von den Hollmanns. Hollmanns!! Der Mann hat so eine Nickelbrille an.
"Ach der!" Hollmanns??
Zu den größten Herausforderungen unserer Zeit gehört die soziale Vereinsamung. Das klassische Großstadtphänomen: Niemand kennt mehr seinen Nachbarn. Da muss was dagegen getan werden. Leider handelt es sich dabei um ein Problem der schieren Menge. Allein in unserer Straße wohnen nach einer von mir durchgeführten repräsentativen Studie mehr Menschen als in Kassel Süd. Und da sind die umliegenden Straßenzüge noch gar nicht eingerechnet. Wer weiß denn da schon noch, wer hier eigentlich wohnt?
Meine Frau. Und sämtliche Bekannten, die wir haben. Sofern sie weiblichen Geschlechts sind.
Eine typische Unterhaltung folgt daher meist dem nachfolgenden Muster:
"Neben Familie Maier sind neue Leute eingezogen. Eine Familie Görensen. Sie leitet eine Unternehmung in der Herrenoberbekleidung, er betreut die Kinder. Frau Meisner sagt, der Sohn wäre für seine 3 Jahre sehr aufgeweckt."
"Meisner?"
"Das ist die Freundin von Elisabeth Fleckenstein, der Friseuse von Gudrun. Gudrun! Ich bitte Dich, die Lebensgefährtin von Mike."
"Mike hat eine neue Lebensgefährtin??"
"Ja, seit 2 Jahren. Du hast das nicht bemerkt?"
"Ehrlich gesagt, nein. Wir waren aber doch noch letzte Woche bei ihnen, und da schien mir aber..."
"Doch nicht DER Mike! Mike Bergensen. Seine Schwester ist die Nichte vom Weingut Gockel."
"Gockel..."
"Die haben doch zwei Söhne. Der Ältere ist der Mann von Siglinde, der Tochter Jessica mit Ingrid im Kindergarten war."
An dieser Stelle gebe ich meistens auf. In diesem speziellen Fall hatte mich jedoch eine Trotzreaktion gepackt. Der Autor dieser Zeilen ist stolz darauf, in seinem beruflichen Umfeld mit Logikanalyse und Fehlerbaummethoden auch schwierige Sachverhalte zu einer nachvollziehbaren Lösung zu bringen. Ich nahm die Herausforderung an.
"Jessica. Das waren doch die mit den 3 Kindern und dem großen Hund."
"Nein. Mit dem großen Hund, das waren die Ramsfelds. Die bei uns einmal zu Besuch waren."
"Hatten die nicht einen Dackel?"
"Nein, Du verwechselst das mit den Hasselbergs. Die haben den Dackel, allerdings auch nur 1 Kind. Einen Sebastian."
"Ach, der mit den dicken Brillengläsern..."
"Nein, aber an Soraya Hasselbach müsstest Du Dich erinnern. Groß, blond, sehr gut gebaut..."
"Nein. Keinesfalls! Aber zurück zu den Ramsfelds. Also, die sind neu eingezogen?"
"Sag mal, wo hast Du denn Deine Gedanken? Die haben doch mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun. Entscheidend ist doch, dass die Freundin von Jessica, die Nele, die ist, deren Bruder schon mit 5 eingeschult worden ist, wo er dann mit Julian in eine Klasse kam. Du weißt schon, Svens Freund Peters kleine Schwester hatte doch einen Unfall auf dem Schulhof. Und der Lehrer , der die Hofaufsicht führte, ist der Verlobte der Klassenlehrerin dieser Nele im letzten Jahr gewesen!"
Ich versuchte, mich gedanklich dieser neuen Anforderung gewachsen zu zeigen.
"Und Nele ist mit ihrem Mann also eingezogen..."
"Wieso eingezogen? Nele ist 7. Die neu Eingezogenen wohnen doch hinten im Terrassenhaus. Schräg oberhalb der Siegburgs."
Siegburgs??
"Und Frau Siegburg hat mir erzählt, dass der Baudezernent einen Bruder hat, dessen Nichte die Freundin von Hans-Jochen ist. Du weißt schon, der Untermieter bei den Bornmanns.
"Jaja, die Bornmanns..."
"Die wohnen gegenüber dem alten Herrn Sperger. Du weißt doch, wen ich meine??"
"Natürlich, das ist der, der da gegenüber von den... wie heißen Sie doch gleich... die mit dem... äh"
"Ich meine nicht die Fredermanns. Der Tochter kennst Du doch. Sie ist die beste Freundin von Jennifer. Und wenn ihr Bruder nicht für ein Jahr zurückgestellt worden wäre, hätte sie sogar in eine Klasse mit Deinem Sohn kommen können. Vielleicht sogar mit dem Joshua von den Karmelmanns. Das musst Du doch noch in Erinnerung haben! Du scheinst gar nicht zu wissen, in welcher Welt Deine Kinder aufwachsen?"
"Doch doch, das ist mir schon alles klar. Muss jetzt aber zur Arbeit"
Leider war auch dieser Selbstversuch nicht erfolgreich. Es würde mich jetzt aber doch interessieren, wer eigentlich die Hasselbergs sind. Dazu müsste ich aber erst einmal herausbekommen, wer Jessica ist. Aber die Zusammenhänge verstehe ich sowieso nicht. Am besten werde ich irgend etwas anderes tun. Ein Heilmittel gegen den Krebs erfinden, vielleicht. Oder den allgemeinen Weltfrieden schaffen. Was einfacheres eben.

Klaus Marion



Klaus Marion


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Last updated 02.05.03