Weihnachtsessen

(c) Klaus Marion 1999

erschienen 12/99 in VorSicht

 


Die Stimme kam von der Seite.
"Was machst Du denn hier?"
Ich drehte mich um und blickte Rudi an, der seinen Einkaufswagen neben der
Supermarktkühltruhe geparkt hatte und voll Interesse auf die Ergebnisse
meiner Einkäufe starrte. Ich hingegen betrachte die Füllung seines Wagens und
konnte nur die üblichen Mengen an Bier, Cola, Chips und sonstige
Knabbereien entdecken.
"Ich kaufe ein. Für Weihnachten."
"Ach, jetzt schon? Nun, ich hole nur die üblichen Grundnahrungsmittel. Was
gibt es denn bei euch zum Fest?"
"Nun, wir werden wie immer die traditionelle Weihnachtsgans in die Röhre
schieben..."
"WIE BITTE??"
Rudi war einen Schritt zurückgetreten und starte mich entsetzt an.
"Nun, eine Weihnachtsgans. Etwa so groß, ca. 5 kg..."
"DAS KANNST DU DOCH NICHT MACHEN!"
Ich hatte das Gefühl, die ungeteilte Aufmerksamkeit aller weiteren Einkäufer zu
besitzen. Der Geräuschpegel im Raum wurde deutlich niedriger. Ich versuchte,
Rudis Bedenken zu zerstreuen.
"Das ist eine freilaufende Gans, mit reinen Körnern ernährt. Die sind
gesundheitlich unbedenklich. Ich..."
"DU FIESER MÖRDER!!"
Totenstille. Selbst die Kühltruhe verstummte verschämt. Aus den
Augenwinkeln wurde ich gewahr, dass der Kreis der neugierig zusehenden
Kunden eine deutlich unfreundliche Ausstrahlung annahm. Verunsichert
musterte ich Rudi.
"Sie war schon tot, wirklich. Die leben nicht mehr, wenn Sie in die Folie
gesteckt werden..."
"Wie kann man nur! Eine mitfühlende Kreatur an so einem Fest zu braten und
zu servieren. Wenn Du ihr in die Augen schaust, dann wirst Du das Leid einer
gequälten Kreatur erblicken! Wie kannst Du Dich dem entziehen, Du
Rohling?"
"Äh, die werden ohne Kopf geliefert...AUA!"
Eine ältere Dame begann, mir mit ihrem Schirm rhythmisch auf den Hinterkopf
zu schlagen. Ich versuchte sie zu ignorieren. 
"Schämen Sie sich! Wie kann man nur so ein harmloses Geschöpf so
misshandeln! Tierschänder!!"
Der Kreis der anderen Kunden zog sich enger, und sie blickten grimmig. Ich
beschloss einen taktischen Rückzug.
"Was ist denn das? Na so was, eigentlich wollte ich doch einen Hasen" - ein
Aufstöhnen der Menge veranlasste mich zu einer blitzschnellen Finte "- äh,
einen Hecht, einen Hecht, meine ich. Wo ist denn die Fischabteilung?" Ein
Herr drängte mich mit seinem Wagen in die Ecke.
"Sie Widerling. Denken Sie doch mal an diese arme Kreatur, wie sie noch im
Wasser schwimmt, und durch ihren Einkauf vom Leben zum Tode befördert
wird. Wie kann man nur so verkommen sein..."
"...ich meinte HERING. Hering in der Dose. Der ist schon ziemlich tot...
Würden Sie bitte endlich aufhören, mit dem Schirm auf mich einzuschlagen?"
Meine Gedanken rasten.
"Schnecken? Einfache Schnecken. Das sind keine Wirbeltiere, und..."
"Schnecken sind doch so putzig...!"
Mit herumirrenden Blicken suchte ich nach einer argumentativen Lücke zu
einem taktischen Durchbruch.
"Vielleicht doch einen Hasen? Falschen Hasen? Nein? Ich glaube, wir werden
uns dieses Jahr mit Sojabratlingen verköstigen. Eventuell mit Blumenkohl."
Eine stark ins alternativ aussehende Gestalt packte mich und tippte mir zur
Unterstreichung ihrer Argumente mit dem spitzen Zeigefinger auf mein Hemd: 
"Das haben wir gerne. Erst sich an den Mitkreaturen vergreifen, und dann dem
chemischen Agrarmonopol in die Hände spielen. Was glaubst Du denn, mit
welchen umweltschädlichen Methoden dieses Gewächs angebaut wurde, hää?
Unglaublich!"
"Man sollte die Polizei holen", bemerkte eine andere Dame. So lange wollte
die Mehrheit augenscheinlich nicht warten. Lynchjustiz lag in der Luft.
"Ja, äh, was DARF ich denn zu Weihnachten essen?"
Eine rege Diskussion brach an. Während von einer aktiven Minderheit die
Kartoffel bevorzugt wurde, machten engagierte Makrobiotiker Front gegen
die Verwendung solcher Kulturimporte und rieten zu 100% heimischen Produkten.
Nach einer Viertelstunde gelang es mir, unter Auflagen wieder in die Freiheit
entlassen zu werden.
Zum Fest gibt es dieses mal einen geprüft-gesunden Körnerauflauf, mit
Bucheckern garniert. Die vorgesehenen Karotten wird es leider nicht dazu
geben. Die sind schließlich für die Hasen.


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Last updated 29.12.99